Die ratsfähigen Familien der Reichsstadt Rothenburg im Wandel der Jahrhunderte
Der Vortrag wurde gehalten von Prof. Dr Karl Borchardt am 23.02.2007 in Rothenburg Verweise, Anmerkungen und Quellennachweise werden in Kürze noch eingefügt
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren,
im Namen des Vereins Alt-Rothenburg darf ich Sie zu dem heutigen Abend sehr herzlich begrüßen. Wir freuen uns über Ihr zahlreiches Erscheinen. Dies wird zu einen damit zusammenhängen, daß der heutige Vortrag stattfindet am Vorabend eines kleinen wissenschaftlichen Symposiums mit vier Gastvorträgen zur Geschichte Frankens und Rothenburgs, welches der Verein Alt-Rothenburg gemeinsam mit dem Historischen Verein für Mittelfranken morgen ab 9.30 Uhr in der Johanniterscheune veranstaltet. Das Symposium ist öffentlich und kostenfrei; ich möchte Sie dazu herzlich einladen. Wegen dieses Symposiums sind bereits heute mehr illustre Gäste angereist als sonst; ich begrüße zwei der Referenten, Herrn Dr. Kurt Andermann vom Generallandesarchiv Karlsruhe und Herrn Professor Gerhard Lubich, Universität Bochum.
Ihr zahlreiches Erscheinen mag auch mit dem Thema zusammenhängen, den ratsfähigen Familien in Rothenburg im Wandel der Jahrhunderte. Vom 14. Jahrhundert bis zur Mediatisierung durch Pfalz-Bayern 1802 war der Rat für Rothenburg die alles entscheidende Obrigkeit, die in Verantwortung vor Gott sowie im Auftrag von Kaiser und Reich umfassend für Ordnung, Recht und Wohlfahrt in der Stadt sorgte. Wer in den Rat kam, zählte zu einer herausgehobenen Personengruppe. Im Rat sind jene Männer zu finden — Frauen waren selbstverständlich nie im Rat —, welche die Geschicke der Stadt über ein halbes Jahrtausend lang bestimmten. Rat, Ratsherrn, ratsfähige Familien, ist deshalb ein zentrales Thema für die Geschichte Rothenburgs.
Das Thema ist gewaltig. Und der Forschungsstand ist miserabe(l). Wir reden über mindestens 600 Familien, darunter schätzungsweise 200 Ehrbare, und über mehr als 2500 Personen, die zwischen dem 13. Jahrhundert und dem Jahre 1802 im Rat der Stadt Rothenburg saßen. Die Quellen dazu liegen überwiegend im Stadtarchiv. Schon mein Vorgänger Johann Adam Erhard und andere haben um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert Listen der Ratsherrn angelegt.1 Für die Zeit vor der Mitte des 15. Jahrhunderts sind diese Listen sehr unzuverlässig, danach öfters fehlerhaft. Dennoch bieten sie einen Ausgangspunkt für die Erforschung des Rates. Hinzu kommen 70 Aktenbände und -faszikel zu den ehrbaren Geschlechtern in der Stadt und im Umland, von denen die meisten im Rat der Stadt vertreten waren.(2) Heranzuziehen sind ferner Heiratsabsprachen, Testamente, Leichenpredigten, Gerichtshändel, Bürgerrechtsverleihungen, Korrespondenzen und Rechnungen. Fast kein Bestand des Stadtarchivs enthält nichts zu den Ratsherrn und ratsfähigen Familien. Außerhalb des Stadtarchivs sowie der Staatsarchive Nürnberg und Ludwigsburg, welche nach der Mediatisierung von 1802 wichtige Bestände des historischen Stadtarchivs übernahmen, sind die wichtigste Quellengruppe die nach der Reformation im 16. Jahrhundert einsetzenden Kirchenbücher mit den Einträgen über Taufen, Eheschließungen und Beerdigungen. Die Kirchenbücher gehören der evangelischen Kirche und liegen seit kurzem nicht mehr in Rothenburg, sondern in der Außenstelle Regensburg des Landeskirchlichen Archivs. Dem Vernehmen nach findet dort eine Verfilmung statt. Wie man die Kirchenbücher kostengünstig der Forschung vor Ort zur Verfügung stellen könnte, nur mit den noch im Dekanat bei St. Jakob vorhandenen und sicher nicht fehlerfreien Karteikarten oder auch in Form von Digitalaufnahmen, steht dahin.
Quantitativ gesehen liegt jedenfalls die Masse der für unser heutiges Thema einschlägigen Quellen im Stadtarchiv. Daher ist es eine originäre Aufgabe des Stadtarchivs, den Rat, die Ratsherrn und die ratsfähigen Familien zu erforschen. Auswärtigen Wissenschaftlern, die keine Anstellung in Rothenburg haben, wird man nicht zumuten können, jahrelang intensiv hier zu forschen. Wenn die Stadt Rothenburg wissenschaftliches Personal in ihrem Stadtarchiv hätte, wären wir mit der Prosopographie und Sozialgeschichte der Ratsherrn sicher weiter, ähnlich wie mit anderen Projekten vergleichbarer Dimension, z.B. einem Häuserbuch für die Altstadt, das häufig nachgefragt wird und für Denkmalpflege wie Stadtplanung eine zwingend notwendige Arbeitsgrundlage darstellt. Rothenburg hat als Wissenschaftler Herrn Dr. Ludwig Schnurrer, der kürzlich seinen 80. Geburtstag feiern konnte. Dazu nochmals im Namen des gesamten Vereins Alt-Rothenburg herzliche Gratulation! Herr Dr. Ludwig Schnurrer hat jahrzehntelang das Stadtarchiv nebenamtlich betreut. Er hat sehr viel für die Stadtgeschichte getan und tut es noch immer. Aber die Ratsherrn und ratsfähigen Familien lassen sich nicht nebenher zusammenstellen und untersuchen. Hauptamtlich bin ich seit 2001 wohlgemerkt als Verwalter, nicht als Wissenschaftler im Stadtarchiv tätig, und zwar allein, ohne zusätzliches Personal. Neben der Verwaltungsroutine bin ich in diesen sechs Jahren nicht in dem notwendigen Maße zu wissenschaftlichen Forschungen in den Beständen des Stadtarchivs gekommen.
Immerhin hoffe ich, gemeinsam mit Herrn Dr. Möhring vom Reichsstadtmuseum bald die farbigen Wappen aus dem Schrag’schen Geschlechterbuch bei einem jetzt in unserer Region ansässigen, unter anderem auf Genealogie und Heraldik spezialisierten Verlag herausbringen zu kommen. Der Ratsherr Johann Friedrich Christoph Schrag (1703-80), dessen Familie nach der Okkupation durch Frankreich 1682 aus Straßburg ausgewandert war, hat in seinem zweibändigen, 1773 Seiten starken Geschlechterbuch außer genealogischen Notizen, welche erst einzeln zu prüfen wären, als Besonderheit 399 farbige Wappenzeichnungen zu eigenen Verwandten, zu anderen ehrbaren Geschlechtern in Rothenburg und zu deren Heiratspartnern aus ganz Oberdeutschland hinterlassen. Um diese kostbaren Bücher zu schonen, sollen wenigstens die farbigen Wappenzeichnungen so bald wie möglich publiziert werden.
Eine Nebenfrucht dieser Aufgabe ist der heutige Vortrag. Johann Friedrich Christoph Schrag hat nämlich nur 146 der insgesamt über 600 ratsfähigen Familien in Rothenburg überhaupt erfaßt. Etwa die Hälfte der rund 200 ehrbaren Familien in Rothenburg fehlt bei Schrag, denn die von ihm erfaßten 146 Geschlechter gehören vielfach gar nicht nach Rothenburg, sondern z.B. zur Schrag’schen Verwandtschaft aus Straßburg. Für das Mittelalter ist Schrag außerordentlich lückenhaft. Für die Neuzeit konzentriert er sich auf ehrbare und wappenführende Geschlechter, die nur einen Teil, wenn auch vermutlich den maßgebenden Teil der im Rat vertretenen Familien darstellten. Darum möchte ich Ihnen im ersten Teil des Vortrags kurz schildern, wer in Rothenburg den Rat bildete. In einem zweiten Teil gehe ich auf drei Phasen ein, in denen sich die Zusammensetzung der ehrbaren ratsfähigen Familien grundlegend änderte, (1) die meist, aber nicht ganz zutreffend mit dem Stichwort Agrarkrise apostrophierten sozioökonomischen Wandlungen im 14. Jahrhundert, (2) die Reformation im 16. Jahrhundert und (3) den Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert und seine Folgen.
1. Die Entwicklung des Rates
Der Rat entstand als bürgerschaftliches Leitungsgremium mit der alteuropäischen Stadt im Rechtssinn während des hohen Mittelalters, in Deutschland also während der Stauferzeit. Aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit eigenwilligen Kommunen in Italien haben die Staufer in ihrem Herrschaftsbereich nördlich der Alpen alles daran gesetzt, das Aufkommen des Rates zu verhindern. Nicht zufällig ist daher für Rothenburg erstmals 1269 von Ratsherrn, consules, die Rede, wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der Staufermacht Mitte des 13. Jahrhunderts. Namentlich nicht genannte consules bekräftigten 1269 eine Urkunde. Bereits 1268 ist erstmals vom Stadtsiegel die Rede, das der Rat führte. Dies Stadtsiegel hing, heute ist nur ein kleiner Rest erhalten, der keine Einzelheiten mehr erkennen läßt, an dem Testament des Bürgers Ulrich Morder, der seine Frau und seine unmündigen Söhne bedachte sowie eine Stiftung zugunsten der Johanniter verfügte.3 Als Zeugen wurden nach dem Komtur der Johanniter und dem Ritter Friedrich von Archshofen zwölf Männer genannt: Alwicus de Wallinhusen, Sifr(idus) frater suus, Alwicus Sellator, Sifr(idus) de Eichswisn, Sifr(idus) de Arenbur, Heinr(icus) Tuschelinus, Alwicus Uitulus, Sefr(idus) filius Gerwici, Si(fridus) de Hartrashouen, Heinr(icus) Ruhenbuche, Conradus Latro, Bertoldus frater suus. Der Rat umfaßte genau zwölf Männer. Und da das Stadtsiegel an der Urkunde hing, könnte es sich um die älteste Liste der Ratsherrn handeln, obwohl der Urkundentext das nicht ausdrücklich sagt. Die Zwölfzahl erklärt sich dadurch, daß die zwölf Schöffen des vom König eingesetzten, vom königlichen Schultheißen geleiteten Stadtgerichts in Rothenburg sich als Rat der Stadt konstituierten. In Nürnberg gab es damals die zwölf Schöffen des Stadtgerichts und neben ihnen zwölf consules aus dem Kreis der führenden Bürger, welche zusammen den Stadtrat aus 24 Männern formierten. Im kleineren Rothenburg war nicht so viel fähiges Personal vorhanden. Hier traten die gleichen zwölf Männer als Schöffen des Stadtgerichts unter dem Schultheißen und als Ratsherrn zusammen. Rothenburg war in diesen Jahren an die Herren von Hohenlohe verpfändet. Der Ritter Friedrich von Archshofen ist möglicherweise als hohenlohischer Beauftragter in Rothenburg zu erklären. Seit König Rudolf von Habsburg 1274 die Verpfändung an die Hohenlohe beendet hatte, führte der königliche Schultheiß als Stadtrichter den Vorsitz im Rat, wie unter anderem 1290 eine Urkunde des Schultheißen Lupold von Weiltingen und der consules belegt.4
Die hier vorgeschlagene Deutung der Urkunde von 1268 wird erhärtet durch eine ebenfalls von der Stadt besiegelte Stiftung des Heinrich Zenner und seiner Gemahlin Irmgard 1303 an den Friedhof von St. Jakob. Als Zeugen erscheinen dort nach neun Deutschordensbrüdern elf Männer, in denen man wohl die Rats- und Schöffenkollegen des Heinrich Zenner sehen darf:5 H(einricus) de Wallenhusen senior, H(einricus) dictus Rosthuscher senior, C(onradus) filius suus, Sifridus dictus Pulcher, Sifridus dictus der Swarze, C(onradus) de Vrnhouen, Sefridus de Vrnhouen, Vlricus dictus Morder, Eberwinus frater suus, Ludewicus Pellifex, Ludewicus dictus Mosebach. Wie die Listen zeigen, stammten die Ratsherrn aus einem kleinen Kreis von immer gleichen Familien, von denen oft sogar mehrere Vertreter, Vater und Sohn oder zwei Brüder, im Rat saßen. Sicher ist, daß der Rat jeweils ein Jahr amtierte, in Rothenburg ab Walpurgis, dem 1. Mai. Sicher ist auch, daß der Rat nie demokratisch von den Bürgern gewählt wurde. Nicht auszuschließen ist, daß anfangs der königliche Schultheiß als Stadtrichter seine Schöffen und Ratsherrn einfach ernannte aus dem Kreis ihm genehmer und bei der Bürgerschaft angesehener Familien. Bald aber ergänzte sich der Rat selbst durch Kooptation. Wenn ein Ratsherr starb, verzichtete oder seinen Kollegen nicht mehr genehm war, wählten sie für nächste Amtsjahr einen anderen. Heftige Zusammenstöße schloß dieses Verfahren nicht aus: Heinrich Vetter wurde 1361 mit Lupold Steiner, Heinrich Roßtäuscher, Heinrich Ullin und Johann Reichlin für immer aus dem Rat ausgeschlossen und 1365 sogar ermordet.6 Doch sozial entstand durch die Kooptation eine festgefügte Ratsoligarchie, allerdings kein rechtlich abgeschlossenes Patriziat, denn die Ratsherrn konnten rechtmäßig jeden beliebigen Bürger in den Rat wählen. Nicht formal rechtlich, sondern nur informell sozial bildete sich ein Kreis von Familien, deren Mitglieder gewohnheitsmäßig die Ratsherrn stellten. Bei den Familiennamen gibt es Berufsbezeichnungen, sellator = Sattler, pellifex = Kürschner, die belegen, daß Handwerkerfamilien Zugang zum Rat hatten. Weiter gibt es Spitznamen wie Morder, latro = Mörder, Roßtuscher, Roßtäuscher. Auffällig sind zahlreiche Benennungen nach Dörfern und Weilern der näheren und weiteren Umgebung: Wallhausen, Eichswiesen, Auernhofen, Mosbach. Das können Herkunftsnamen sein. In Einzelfällen kann es auch auf einen Stammsitz der Familie in diesem Dorf oder Weiler hindeuten. Zwischen den führenden Bürgerfamilien in Rothenburg, dem Meliorat, von meliores ‘die Besseren’, und den kleinen Ritteradeligen im Umland gab es im 13. Jahrhundert und bis weit ins 14. Jahrhundert hinein sozial kaum Unterschiede. Sie heirateten untereinander und verfügten beide über grundherrschaftlichen Besitz auf dem Land. Familien des Meliorats wie die Wallhausen, Auernhofen, Hornburg dürften ebenso wie die Ritteradeligen des Umlandes auf die stauferzeitliche Ministerialität zurückgehen, die erblichen Dienstmannen des Königs, der geistlichen und weltlichen Fürsten, der Grafen und Herren.
Im weiteren Verlauf des Mittelalters jedoch traten zwei umwälzende Veränderungen ein. Zum einen wurden der Schultheiß und andere königliche Amtsträger wie der Landrichter durch den Rat ausgeschaltet. Die Finanzkraft der Bürger erlaubte es dem Rat, die königlichen Rechte aufzukaufen und selbst die Herrschaft in der Stadt und ihrem Umland zu übernehmen. Im Zuge dieser Entwicklung verlor der Schultheiß den Vorsitz im Rat. Stattdessen ist seit 1336 das Amt des Bürgermeisters belegt. Zweitens vermehrten sich die Aufgaben des Rates dramatisch. Deshalb wurden Ratsämter eingerichtet, jeweils zwei oder drei Ratsherrn, welche für ein Jahr die Pflegschaften über die Pfarrkirche St. Jakob, andere Kirchen und Klöster, das Stadtgericht, die Ämter auf dem Land und, nicht zuletzt, als Steuerer und Baumeister die Aufsicht über die bürgerlichen Steuern, die städtische Grundherrschaft und ihre Wirtschaftshöfe übernahmen.
Eine stärkere Bürgerbeteiligung war im Spätmittelalter unvermeidlich, einmal weil die wachsenden Kompetenzen des Rates mehr Personal erforderten, zum anderen, weil das hergebrachte Meliorat die finanziellen Lasten nicht allein tragen konnte, so daß immer öfter Steuern und Dienste den Bürgern abgefordert wurden. Man löste das Problem, indem man ein neues Gremium schuf, den Äußeren Rat, der in Rothenburg 40 Männer umfaßte. Zuerst belegt ist er 1336 in der gleichen Urkunde, einem Vertrag mit dem Deutschorden über die Pfarrkirche St. Jakob, welche auch erstmals die Bürgermeister nennt, den Inneren Bürgermeister im Inneren und den Äußeren Bürgermeister im Äußeren Rat.7 Im Willkürenbuch wird schon 1333 zwischen den Bürgern vom Rat und der Gemeinde vom Rat unterschieden, zwei Gremien, welche ihr gegenseitiges Zusammenwirken regelten.8 Um diese Zeit dürfte mithin die Ratsverfassung neu gestaltet worden sein.
Andere Reichsstädte hatten weniger Personen im Äußeren Rat, Dinkelsbühl 32, Weißenburg 26, Windsheim und Schweinfurt nur 12. Die Mitglieder des Äußeren Rates besaßen als Geschworene, iurati, und Genannte, nominati, besondere Glaubwürdigkeit bei Rechtsgeschäften oder waren als Hauptleute bei der Bewachung und Sicherung der Stadt tätig. In Nürnberg bildeten die anfangs 46 Genannten den Größeren Rat, wie es dort hieß, nicht Äußeren Rat. In Rothenburg gab es später zusätzlich zum Äußeren Rat ein Gremium von anfangs 25 Hauptleuten und Genannten, die polizeilich-militärische Wachtdienste versahen.
Der 40köpfige Äußere Rat trat neben den älteren, 12köpfigen Inneren Rat. Bei wichtigen, insbesondere bei finanziell folgenreichen Beschlüssen mußte der Innere Rat die Zustimmung des Äußeren Rates einholen. Für die Ratsämter wurden auch Angehörige des Äußeren Rates herangezogen. Bei der jährlichen Ratswahl wurde die bisherige Kooptation modifiziert, indem gewöhnlich zuerst der Innere den Äußeren und dann der Äußere den Inneren Rat neu bestimmte. Wiederwahl wurde die Regel. Genauer zu prüfen wäre, welche Fälle von Nicht-Wiederwahl auf politische oder persönliche Auseinandersetzungen zurückgehen.
Konfliktfrei lief es jedenfalls nicht ab, bis sich der Rat als von der Bürgerschaft der Stadt und den Bauern des Umlandes fraglos anerkannte Obrigkeit durchsetzte. Die Bürgerkämpfe des späteren Mittelalters erfaßten auch Rothenburg und führten hier 1455 zu einer Verfassungsreform, welche bis 1802 gültig blieb. Damit Bürger sich nicht eigenmächtig gegen den Rat organisierten, durften die Handwerker in Rothenburg wie auch in Nürnberg und anderen fränkischen Städten, aber anders als beispielsweise in Ulm und weiteren schwäbischen Städten keine Zünfte bilden, sondern wurden vom Rat nach Berufsgruppen in Innungen erfaßt, welche auf den Rat vereidigte Meister leiteten. Das ging gut, solange der Rat erfolgreich agierte. Nach dem Scheitern von Heinrich Topplers Expansionspolitik 1407/08 mehrte sich Kritik an Ineffizienz und Eigensucht der Ratsherrn. Der 1449 mit einem unbefriedigenden Kompromiß endende Zweite Städtekrieg brachte das Faß zum Überlaufen. Geführt von dem Steinmetzen Peter Sieder machten die Bürger 1450 dem verantwortlichen Bürgermeister Heinrich Trüb den Prozeß und erzwangen die Einführung der Zunftverfassung. Die Ehrbaren wurden zu einer Zunft zusammengeschlossen; ihnen traten elf Handwerkerzünfte an die Seite, Schmiede, Gerber, Metzger, Färber, Schuster, Schneider, Bäcker, Zimmerleute, Loder, Krämer und Sattler sowie Hecker. Im Inneren Rat gesellten sich zu den bisher zwölf Ehrbaren die Vorsteher der neuen zwölf Zünfte. Einer von ihnen gehörte ebenfalls der Ehrbarkeit an. Dies alles erhellt den gemäßigten, überdies unblutigen Charakter der Revolte. Der bisher 40köpfige Äußere Rat wurde durch 24 Zugeber ersetzt, zwei aus jeder Zunft. Rädelsführer der Revolte wurden bald verbannt und auf Drängen des rothenburgischen Rates auswärts hingerichtet, Peter Sieder in Ulm. Trotzdem zogen unzufriedene Angehörige der alten Ratsoligarchie aus Rothenburg weg, Erhard Nenninger nach Heilbronn, Heinrich Schultheiß nach Hall.
Bald merkten die neuen 2 x 24 Ratsherrn, daß sie es nicht besser machen konnten als ihre Vorgänger und daß sie überfordert waren. Handwerkern fehlten die persönlichen Verbindungen, das juristisch-politische Fachwissen und nicht zuletzt die privaten Gelder, um Rothenburgs Interessen auswärts durchzusetzen. Handwerker konnten es sich, anders als Grundbesitzer und Handelsherrn, nicht leisten, aus ihrem Geschäft in Rothenburg wochenlang abwesend zu sein zu Verhandlungen oder Kriegszügen. Verwandte der ehrbaren Geschlechter aus Nürnberg und anderen Reichsstädten vermittelten 1455 einen Kompromiß. Die Zünfte wurden wieder abgeschafft. Aber Handwerker sollten paritätisch in beiden Ratsgremien vertreten sein. Der Innere Rat erhielt jetzt 16 Mitglieder statt früher 12, der Äußere Rat wie früher 40 Mitglieder. Diese Ordnung wurde nur noch einmal ernsthaft in Frage gestellt, 1525 im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg. Daß höchstens die Hälfte der Ratsherrn sowohl im Inneren als auch im Äußeren Rat Bürger sein durften, die “nicht Handwerk können noch Handwerk getrieben haben”, also der Ehrbarkeit angehörten, wurde von Anfang an großzügig umgangen. Die meisten Stadtbürger fanden si h damit ab, vollends seit der Rat 1544 den Wünschen der Mehrheit entsprechend die Reformation einführte.
2. Wandlungen bei den ratsfähigen Familien
Auf den ersten Blick erscheinen die Verhältnisse in Rothenburg mithin eher statisch, bis 1450 zwölf, ab 1455 dann 16 Mitglieder im Inneren Rat, im Äußeren Rat stets 40 Mitglieder, abgesehen zwischen 1450 und 1455. Der Blick auf die Zusammensetzung der beiden Ratsgremien dagegen enthüllt gesellschaftliche Dynamik. Nicht nur gab es immer wieder Handwerker verschiedenster Profession, viele Wirte, aber auch Metzger, Bäcker, Gerber, die vielleicht faktisch nicht viel zu sagen hatten, aber an den Ratssitzungen teilnehmen mußten: Aufgrund der Präsenzpflicht drohten Strafen bei unentschuldigtem Fehlen, wenn die Ratglocke geläutet hatte. Wenigstens formal wurden diese Handwerker in die Entscheidungen des Rates eingebunden. Daß Handwerker meist nur wenige Jahre im Äußeren Rat blieben, mag mit ihrer Abkömmlichkeit aus dem Geschäft zusammenhängen. Gerade deshalb mußten sie jedoch immer wieder durch andere Handwerker ersetzt werden, was den erwünschten Effekt hatte, den Kreis der durch Rang und Ehre ausgezeichneten Bürger zu erweitern und die Akzeptanz des Rates als Obirgkeit zu erhöhen.
Bemerkenswerte Wandlungen vollzogen sich dreimal hinsichtlich der Zusammensetzung der Ehrbarkeit, der Familien, welche die engere Ratsoligarchie bildeten und namentlich den Inneren Rat, dort besonders die sich halbjährlich abwechselnden Amtsbürgermeister des Inneren Rates dominierten. Solche sozialen Umbrüche in der Ehrbarkeit fanden statt (1) im 14. Jahrhundert im Zusammenhang mit der sogenannten Agrarkrise, (2) im 16. Jahrhundert durch die Reformation und (3) im 17. Jahrhundert durch den Dreißigjährigen Krieg. Das alte Meliorat, welches den Rat seit dem 13. Jahrhundert dominierte, lebte allem Anschein nach in der Hauptsache vom Getreideanbau. Wirklich belegen läßt sich diese Vermutung aus Mangel an Quellen zur privaten Wirtschaftsgeschichte Rothenburgs nicht. Klar ist aber, daß Getreidepreise seit der Mitte des 14. Jahrhunderts infolge der Pestepidemien relativ gesehen sanken, weil der demographische Einbruch, dessen genaues Ausmaß wir auch für Rothenburg nicht genau einschätzen können, die Zahl der Konsumenten von Brot, Brei und anderen Getreideprodukten drastisch reduzierte. Dagegen stiegen die Preise für handwerkliche und gewerbliche Erzeugnisse, weil die Zahl der Arbeitskräfte zurückging, so daß die Löhne erhöht werden mußten. Das ist der Kern der sogenannten Agrarkrise des 14. Jahrhunderts, die jüngst von Teilen der Forschung in Frage gestellt wird. Unbezweifelbar jedoch dürfte die Schere zwischen sinkenden Getreidepreisen und steigenden Preisen für Kleidung, Hausrat und Rüstung sein, welche seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zahlreiche Angehörige der traditionellen Führungsschichten in den Ruin trieb, Ritter und Edelknechte, sogar kleine Grafen und Herren, und eben auch das städtische Meliorat. Neue Leute, reich gewordene Gewerbetreibende und Handwerker drangen nach 1350 in den Rat ein. Siegfried Hornburg und sein Sohn, zwei Angehörigen der alten Geschlechter, schimpften 1375, es sei “der rat nit redlich bestellt,” denn “die pfützen giengen uff und die guten brunnen verdorben”; “es muest noch anders sten oder ir 10 müsten die köpff dorumb geben.”9
Heinrich Toppler war eine solche Pfütze, ein solcher Emporkömmling, sein persönlicher Gegenspieler Hans Wern, über den Ludwig Schnurrer ausführlich gearbeitet hat, allerdings auch, ein Faktum, das uns warnen sollte, nicht alle Konflikte mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu erklären. Heinrich Topplers Großvater war als Bauer nach Rothenburg zugezogen. Der Vater Konrad Toppler machte als Viehhändler und Gastwirt ein Vermögen; spätestens 1352 saß er im Rat. Der Sohn Heinrich Toppler, von 1373 bis zu seinem Sturz 1408 anscheinend ununterbrochen im Rat, krönte den neuen Status der Familie durch seine Ehe mit Barbara Wernitzer (= von Wörnitz, aus dem alten Meliorat). Außer den Wernitzern hielten sich von dem alten Meliorat nur die Hornburg bis ins 16. Jahrhundert. Sonst dominierten seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts neue, durch Handel mit Wein, Wolle und anderen landwirtschaftlichen Produkten reich gewordene Familien. Ihr Kapital legte diese Familien zügig in Grundbesitz an, welchen Ritteradelige und meliores veräußerten. Bevorzugtes Wohnquartier der neuen Familien war die Schmiedgasse unweit des Hauptmarktes, nicht der Viehmarkt, die heutige Herrngasse, an die man bei Patrizierhäusern in Rothenburg immer zuerst denkt, weil dort und in ihrer Nähe die Turmhäuser des alten Meliorats gesucht werden. In der Schmiedgasse lebten außer Heinrich Toppler sein Gegenspieler Hans Wern, den er der Ketzerei bezichtete und so aus der Stadt vertrieb, und dessen Vetter Hans Öffner. Der Untergang Heinrich Topplers war durch politische Fehler und persönliche Charaktereigenschaften verursacht; die Schicht, der Heinrich Toppler entstammte, blieb tonangebend.
Der nächste tiefgreifende Wandel in der Zusammensetzung der ratsfähigen, ehrbaren Geschlechter ist erst im 16. Jahrhundert zu beobachten. Die im 14. und 15. Jahrhundert aufgestiegenen, durch zahlreiche kirchliche Stiftungen hervorgetretenen Familien reagierten auf die Reformation individuell verschieden, der generellen Tendenz nach eher zurückhaltend bis ablehnend. Schließlich bedeutete die Reformation die Abschaffung ihrer Seelenmessen, damit ihres öffentlichen Totengedächtnisses, und vielfach die Makulierung der von ihren Vorfahren in Auftrag gegebenen, mit ihren Wappen und Stifterfiguren gezierten Skulpturen und Altargemälde in Kirchen und Kapellen der Stadt und des Umlandes. Daß es gerade Johann Hornburg war, einer der letzten Angehörigen des alten Meliorats, der 1544 die endgültige Einführung der Reformation in Rothenburg durchsetzte, könnte sozialgeschichtlich als späte Rache für die Verdrängung seiner Standesgenossen im 14. Jahrhundert gedeutet werden.
Ein zweiter Gesichtspunkt kam hinzu, die Formierung der fränkischen Reichsritterschaft als eines Kreises von Reichsunmittelbaren, mit eigener Steuererhebung und eigenem Reformationsrecht. Viele Herrensitze und Landgüter wurden in Franken wie in Schwaben und den Rheinlanden zu eigenständigen, durch Kaiser und Reich garantierten Miniaturstaaten. Viele ehrbare Familien, welche ihr Kapital während des Spätmittelalters in Herrensitzen und Landgütern angelegt hatten, erstrebten diesen Status. Schlößlein und Ansitze von Gammesfeld über Insingen, Diebach, Bockenfeld bis Habelsheim, welche der Rat an ehrbare Familien verpfändet oder verkauft hatte, standen so in der Gefahr, dem reichsstädtischen Territorium entfremdet und der fränkischen Reichsritterschaft einverleibt zu werden. In Archshofen, das im Spätmittelalter den vom Rein, deren Vollwappen mit Helm, Helmdecke und Helmzier bis heute das Haus Marktplatz 6 ziert, dann den Lochingern gehört hatte, geschah dies auch. Danach wachte der Rat mit Argusaugen darüber, daß sich die ehrbaren Geschlechter auf ihren Landsitzen nicht zu sehr verselbständigten. Zu den spektakulärsten Zusammenstößen kam es mit den Öffnern. Wolf Öffner der Jüngere von Insingen tat sich während der Kriege des Markgrafen Albrecht Alkibiades als Mordbrenner und Räuber hervor, wurde 1557 durch Schwäbisch Hall gefangen und hingerichtet. Kunz Öffner zu Wildenhof verweigerte 1610 der Stadt Steuer und Schatzung. Die Stadt beschlagnahmte daraufhin seinen Besitz, stellte ihn unter Kuratel und verkaufte ihn 1653 zur Tilgung ihrer eigenen Kriegsschulden. Die überlebenden Öffner waren inzwischen weit weg, in spanische Militärdienste nach Brabant verschlagen worden und konnten nicht wirksam intervenieren.10 Andere ehrbare Geschlechter hatten Schwierigkeiten, standesgemäße Ehepartner zu finden, und starben aus, die Hornburg, Jagstheimer, Wernitzer, Fürbringer.
In den Rat und bald auch in den Grundbesitz rückten neue Familien nach, die Walther, Bezold, Staudt, Nusch, Winterbach, Albrecht, zumeist Bauern und Handwerker, die schon länger in Rothenburg und seinem Umland gelebt hatten oder die hierher einwanderten. Einheirat in die Ehrbarkeit war eine Möglichkeit des Aufstiegs, da es zwischen Ehrbarkeit und einfachem Volk keine rechtlichen Schranken gab wie zwischen Adeligen und Nicht-Adeligen, welche eine Heirat juristischen und sozialen mit Sanktionen bedrohten. Wirtschaftliche Tüchtigkeit, die Anhäufung eines Vermögens durch Handel oder Gewerbe erleichterte auch jetzt wieder den Aufstieg in die Ratsoligarchie, genau wie schon im Spätmittelalter. Neu war ein drittes Mittel zum sozialen Aufstieg, das Universitätsstudium. Schon im Spätmittelalter hatten geistliche und weltliche Herrschaftsträger vermehrt Juristen und Theologen in ihre Dienste genommen, gut besoldet und damit ihren Familien sozialen Aufstieg ermöglicht. Die Einführung der Reformation ließ den Rat zur Obrigkeit werden, der für Seele und Leib seiner Untertanen in Stadt und Land zu sorgen hatte. Studierte Juristen hatte man gern im Rat, studierte Theologen gern auf den Pfarrstellen. Beispiele dafür, daß Ratsherrn einerseits und evangelische Pfarrer andererseits aus den gleichen Familien kamen, finden sich zahlreich in Wilhelm Dannheimers Pfarrerverzeichnis (1952) von Adami und Albrecht über Lehmus bis Waldmann und Zierlein. Barocke Zeremonialordnungen faßten die Führungsschicht Rothenburgs unter dem Begriff der litterati zusammen, studierte Juristen und Theologen, gelegentlich auch Mediziner, die bei öffentlichen und privaten Anlässen den Vorrang bekamen, sich aber auch würdig kleiden und standesgemäß benehmen sollten.
Militärische Tüchtigkeit und Verdienste um den Krieg konnten den sozialen Aufstieg ebenfalls beschleunigen. Der Bürgermeister Philipp Seyboth, als Heereslieferant im Dreißigjährigen Krieg reich geworden, erhielt als erster Ratsherr in Rothenburg 1661 vom Kaiser für sich und seine Nachkommen den Adelsrang.11 Durch tüchtige Offiziere zeichnete sich besonders die Familie Staudt aus. Die Staudt besorgten sich nicht allein Wappenbriefe, wie seit dem Spätmittelalter schon üblich, z.B. 1474 für die Eisenhart. Den Staudt gelang an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ebenfalls die formelle Nobilitierung, natürlich gegen hohe Gebühren. Seither hieß es von Seyboth, von Staudt, bald auch von Winterbach, von Kegeth. Neuzeitlich ist “von” ein Adelsprädikat, was im Mittelalter nicht der Fall war, wo man zwischen Heinrich von Wallhausen und Heinrich Wallhäuser keinen Unterschied machte.
Militärische Ereignisse beeinflußten die Zusammensetzung der Ratsoligarchie Rothenburgs jedoch nicht nur dadurch, daß Offiziere und Kriegslieferanten sozial aufstiegen, bis hin zu Johann Ferdinand Schmidt von Eisenberg, der eine Seckendorff heiratete aus fränkischen Ritteradel, das Topplerschlößchen kaufte und dort stolz sein und seiner Gemahlin Wappen anbrachte.12 Die schweren Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges, in Rothenburg 1631 und mehr noch 1634/35 verschonten nicht den Kreis der Ratsherrn und machten dort Platz für neue Familien. Dies waren nicht allein soziale Aufsteiger, sondern vielfach angesehene Personen, die von auswärts nach Rothenburg flüchteten. Nikolaus Göttlingk, bekannt als Verfasser einer Stadtchronik, kam aus dem durch Tilly zerstörten Magdeburg. Herr Balthasar von Raggowitz kam aus dem zwangsweise rekatholisierten Böhmen und saß 1627-40 im Äußeren Rat. Die Zuwanderung der Schrag aus dem durch Ludwig XIV. okkupierten Straßburg schließt die Reihe von Zuzüglern hohen Standes ab.
Im Jahre 1674 verfügte der Rat eine drastische Erhöhung der Aufwandsentschädigungen für die Ratsherrn und die Ratsämter, bei den drei Steuerern von 20 fl auf 480 fl, bei den Baumeistern von 10 fl auf 162 fl usw.13 Seither bezogen Ratsherrn, welche in Ratsämter einrückten, einen wesentlichen Teil ihres Lebensunterhalts aus dieser Tätigkeit. Damit der Kampf um Posten und Pfründen nicht ausuferte, besetzte man Ratsämter fortan immer strenger nach Rang und Anciennität (Dienstalter), was nicht gerade die Effizienz der Verwaltung steigerte. Im 18. Jahrhundert hatte sich die Ratsoligarchie bereits wieder so verfestigt, daß bürgerlich-aufgeklärte Kritik laut wurde. Demütigungen wie die preußische Brandschatzung 1761 schadeten dem Ansehen des Rates. Allgemein waren Veränderungen unausweichlich, um für die durch erfolgreiche Gesundheitsfürsorge rasch wachsende Bevölkerung ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Neue Unternehmer fühlten sich jedoch durch den Rat nicht genügend unterstützt und wurden zudem herausgefordert, weil die ehrbaren Geschlechter ihnen den Aufstieg nicht gönnten. Der Salpeter-Sieder Georg Heinrich Schaffert übergab sein anrüchiges Geschäft baldmöglichst seinem Sohn und wollte, obwohl nicht standesgemäß als literatus gebildet, Ratsherr werden. Um sich zu qualifizieren, schrieb er 1771/73 die letzte Chronik der Reichsstadt Rothenburg, ganz traditionell gegliedert und ausgerichtet auf das für den Rat und seine Amtsträger notwendige Herrschaftswissen. Georg Heinrich Schaffert fand sogar Freunde in der Ratsbürokratie, die ihm heimlich das — heute verschollene — Original der Verfassungsurkunde von 1455 zugänglich machten, welche die Partizipation von Handwerkern verbriefte. In den Rat wurde er dennoch nicht kooptiert, ebensowenig wie der reiche Müller Johann Georg von Berg mit seiner Tabak-Fabrikation, der umsonst seine Familie auf einen zum alten Adelssitz deklarierten Einödhof im Crailsheimischen zurückführte.14 Gegen Ende der Reichsstadtzeit kam es unter dem Eindruck der Französischen Revolution zu Bürgerunruhen 1795/96, die mit preußischer und kaiserlicher Hilfe unterdrückt wurden. Bei der Bürgerschaft erlosch die Revolutionsbegeisterung, als im Zweiten Koalitionskrieg französische Besatzungstruppen in Rothenburg sich einquartierten. Trotzdem waren Verfassungs- und Gesellschaftsreformen an der Wende zum 19. Jahrhundert unaufschiebbar. Es konnte nicht ewig so weitergehen, daß die Schüler auf dem Gymnasium nach dem Rang ihrer Eltern benotet wurden, genau nach diesem Rang in den Rat einrückten und die Ratsämter bekleideten, völlig unabhängig von persönlicher Qualifikation. Die bayerische Verwaltung, welche die rothenburgischen Ratsherrn und anderen Bediensteten übernehmen sollte, stufte eine erhebliche Anzahl als wenig oder gar nicht brauchbar ein, den Bürgermeister Johann Gottlieb Ebert, 72 Jahre, wegen hohen Alters und körperlicher Schwäche, den Ratskonsulenten Chrstoph Wilhelm von Winterbach, 58 Jahre, wegen gewohnter Untätigkeit und täglicher Betrunkenheit, den Landkommissär zu Insingen Christian Gustav Albrecht, 60 Jahre, wegen Geistesschwäche.(15)
Anscheinend bahnte sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein neuer Zyklus an in jenem periodischen Aufstieg und Niedergang ratsfähiger, ehrbarer Familien, den es ähnlich im 14. und im 16./17. Jahrhundert gegeben hatte, damals modifiziert durch die Einwirkung des Dreißigjährigen Krieges. Daß die Ratsverfassung in Rothenburg trotz aller äußeren Gleichförmigkeit über die Jahrhunderte hinweg nicht statisch war, daß es über die unvermeidlichen persönlichen Interessenkonflikte hinaus säkulare Bewegungen in der Sozialstruktur gab, wollte ich Ihnen heute im Überblick nahebringen. Vieles bedarf genauerer Erforschung, beispielsweise die Wohnhäuser die ehrbaren Geschlechter, für welche das Pendant zu Anton Ress’ Kirchlichen Bauten (1959) bis heute fehlt, ganz zu schweigen von einem Häuserbuch. Daß die Forschung zu den ratsfähigen Familien in absehbarer Zeit substantielle Fortschritte macht, muß nach den Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte bezweifelt werden. Viel wird davon abhängen, was Rothenburg will. Wenn Rothenburg ins “Weltkulturerbe” der UNESCO will, wird man in die Geschichtsforschung neu investieren müssen. Gelder dafür brauchen nicht unbedingt aus öffentlichen Haushalten stammen. Es gibt Stiftungen, welche Forschungsprojkete fördern. Allerdings müßte die Verwaltung das Einwerben solcher Mittel professionell betreiben und die Politik dies unterstützen. Mehr als einen groben Überblick konnte ich beim jetzigen Forschungsstand nicht versuchen. Manche von Ihnen mögen enttäuscht sein, daß ich gerade zu einer Sie speziell interessierenden Familie nichts gesagt habe. Mir kam es auf Grundzüge an, auf den allgemeinen Hintergrund, vor dem einzelne Ratsherrn und ratsfähige Familien zu sehen sind. Wenn Sie Einwände oder Nachfragen haben, stelle ich mich gerne der Diskussion, die Herr Dr. Richard Schmitt leiten wird.
Ratherrn und ratsfähige Familien in Rothenburg
1268: der Ritter Friedrich von Archshofen, dann Alwicus de Wallinhusen, Sifr(idus) frater suus, Alwicus Sellator, Sifr(idus) de Eichswisn, Sifr(idus) de Arenbur, Heinr(icus) Tuschelinus, Alwicus Uitulus, Sefr(idus) filius Gerwici, Si(fridus) de Hartrashouen, Heinr(icus) Ruhenbuche, Conradus Latro, Bertoldus frater suus
1303: Heinrich Zenner, dann H(einricus) de Wallenhusen senior, H(einricus) dictus Rosthuscher senior, C(onradus) filius suus, Sifridus dictus Pulcher, Sifridus dictus der Swarze, C(onradus) de Vrnhouen, Sefridus de Vrnhouen, Vlricus dictus Morder, Eberwinus frater suus, Ludewicus Pellifex, Ludewicus dictus Mosebach
Innerer Rat seit 1455 mit 16 Mitgliedern, jeweils in der quellengemäßen Rangordnung, an der Spitze der Innere Bürgermeister
1460 Leonhard Wernitzer, Heinrich Trüb, Johann Bermeter, Konrad Öffner, Johann Gundlach, Konrad Standorfer, Hermann Prell, Anton Berwink, Johann Scherling, Michael Spieß, Johann Bingärter, Heinrich Jacob, Johann Reß, Stephan Haiden, Johann von Hausen, Leonhard Spieß
1544 Johann Hornburg, Johann Jagstheimer der Ältere, Bonifaz Wernitzer, Georg Berler, Cyriakus von Rinckenberg, Barthel Frey, Leonhard Schwarzmann, Konrad Öffner, Dietrich Hermann, Johann Winterbach, Michael Wacker, Jakob Kirbiß, Melchior Haiden, Johann Kretzer, Wolf Eberhart, Hieronymus Öffner
1618 Johann Bezold, Michael Reichshöfer, Johann Öffner, Johann Völcker, Johann Staudt, Moritz Rüdinger, Georg Raab, Adam Geiß, Georg Bezold, Georg Seyferlein, Adolf Ramminger, Johann Ludwig Winterbach, Johann Christoph Marckart, Johann Guckenberger, Wilhelm Hofmann, Johann Pfisterer
1648 Georg Nusch, Georg Christoph Hohenberger, Johann Georg Styrzel, Johann Georg Schnepf, Johann Georg Staudt, Johann Rauchbar, Georg Albrecht, Konrad Raab, Georg Adam Husel, Johann Georg Walther, Johann Gangolf Schwarz, Georg Winter, Georg Bubenleber, Philipp Seyboth, Nikolaus Göttlingk, Johann Sigmund Holderbusch
1745 Georg Adam Renger, Johann Daniel Krauß, Johann Michael Raab, Johann Christoph Albrecht, Johann Christoph Pürckauer, Johann Gottfried Adami, Johann Daniel von Staudt, Johann Gottlieb von Staudt, Johann Christian von Winterbach, Christoph Wilhelm Hoffmann, Simon Christoph Albrecht, Christoph Augustin Walther, Johann Josaphat Hoffmann, Johann Friedrich Krauß, Philipp Gustav Herrnbauer, Johann Christoph Bezold
Prof. Dr. Karl Borchardt, 07.03.2007
Quelle
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