TERRITORIUM DER REICHSSTADT ROTHENBURG

Das Territorium der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber

Vortrag gehalten an der Jahreshauptversammlung am 7. Mai 2003
von Prof. Dr. Karl Borchardt, Stadtarchiv Rothenburg ob der Tauber

Die entscheidende geschichtliche Besonderheit von Rothenburg ob der Tauber ist das rund 400 Quadratkilometer große Territorium, das zwischen 1383 und 1406 durch mehrere Käufe unter dem Bürgermeister Heinrich Toppler erworben wurde.

Fast alle anderen Reichsstädte reichten so gut wie gar nicht über ihre Stadtmauern hinaus, Windsheim oder Schweinfurt beispielsweise, oder sie hatten wie Dinkelsbühl oder Schwäbisch Hall nur ein wesentlich kleineres Landgebiet. Nürnberg, das im Spätmittelalter dreimal so groß war wie Rothenburg, dehnte erst 1505 sein Territorium so weit aus, daß es die Rothenburger Landwehr um ein Weniges übertraf.

Im weiteren Umkreis verfügten nur Ulm, Straßburg, Zürich oder Bern über Landgebiete, die sich mit der Rothenburger Landwehr messen konnten. Nach Fläche und Volkszahl war Rothenburg größer als mancher Staat, der heute selbständiges Mitglied der Vereinten Nationen ist.

Bis zum Ende der Reichsstadtzeit 1802/03 lebte Rothenburg nicht wie Nürnberg und Augsburg von Gewerbe oder Handel, sondern von der Landwirtschaft in seinem Territorium. Noch 1796 erschien dem Reformminister Hardenberg in Ansbach Rothenburg aufgrund seines ertragreichen Landgebietes als ein lebensfähiges Staatsgebilde, das er nicht Preußen einverleiben wollte, anders als Windsheim, Dinkelsbühl, Weißenburg und sogar Nürnberg.

Die Rothenburger Landwehr darf mithin als Besonderheit gelten.

Deshalb ist es wichtig, die Reste ihrer rund 60 Kilometer langen Befestigung, der Landhege, mit ihren Türmen und Riegeln im Gelände zu schützen. Deshalb lohnt es, wie Herbert Woltering oder Hans Mattern die Landwehr zu erforschen und über die Motive nachzudenken, warum die Landwehr an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert entstand.

In der Beilage zur Bayerischen Staatszeitung wurde im Februar dieses Jahres über das Rothenburger Territorium gehandelt. Der Titel lautete suggestiv: Eine Reichsstadt igelt sich ein.

Das paßt zu dem Klischee von kleinen Reichsstädten, die sich auf engherzige Kirchturmpolitik beschränkt hätten und zu Recht 1802/03 von größeren Flächenstaaten mediatisiert worden seien. Das paßt auch zu der von der Bayerischen Staatszeitung heutzutage natürlich nicht explizit vertretenen Vorstellung, Staaten, die etwas auf sich halten, müßten mit militärischen oder ökonomischen Mitteln aggressiv expandieren. Aber war Rothenburg wirklich immer so beschränkt, so selbstgenügsam und friedfertig, wie Carlheinz Gräter in der erwähnten Beilage [Unser Bayern: Heimatbeilage der Bayerischen Staatszeitung 52/2, Februar 2003, S. 29-31] andeutet?

Auf den ersten Blick mag Rothenburgs Territorialerwerb in der Tat eher zurückhaltend und defensiv erscheinen.

Zwar hat Rothenburg zur Zeit des Heinrich Toppler ab und an Krieg geführt. Zwar hat Rothenburg damals kleinere Burgen und feste Häuser des verarmten Niederadels in seiner Umgebung zerstört, mit dem üblichen Vorwand, es handle sich um Nester von Raubrittern. Aber seine Herrschaftsrechte erwarb Rothenburg stets durch Kauf: zunächst 1383 Nordenberg mit Detwang, 1387 Endsee, 1388 Gammesfeld, dann in einer zweiten Phase 1399 Lichtel, 1400 Insingen, 1404 Seldeneck, 1406 Gailnau. Die Kaufsummen hielten sich in erträglichen Grenzen, zumal bestehende Schulden gegengerechnet wurden. Die Ratsherrn waren in der Lage, der Stadt das benötigte Bargeld vorzuschießen. Für den Kauf von Nordenberg erhöhte Heinrich Toppler seinen Beitrag zweimal, bis er auf die gleiche Summe kam, die sein Rivale Johann Wern gab.

Im Gegensatz zum Niederadel, der infolge seuchenbedingter Bevölkerungsverluste kaum noch Abnehmer für sein Getreide fand und deshalb verkaufen mußte, schwammen bestimmte bürgerliche Kreise geradezu im Geld, denn der gleichfalls seuchenbedingte Arbeitkräftemangel erlaubte horrende Preissteigerungen im Handwerk und bei Dienstleistungen.

Auf diese Weise wurden Bürger reich und kauften verschuldeten adeligen Grundbesitz, Siegfried Eberhart in Oestheim, Siegfried Häuptlein in Oberstetten, vor allem aber Heinrich Toppler, dessen umfangreiches Gültbuch Ludwig Schnurrer ediert hat. Auf den ersten Blick dienten die Käufe des Rates dazu, die Herrschaftsrechte über die jetzt bürgerlichen Güter in städtische Hand zu bringen. Um die Erwerbungen zu finanziern, hat die Stadt selbst kaum Kredite aufgenommen, anders als um die gleiche Zeit der Burggraf von Nürnberg oder der Bischof von Würzburg.

Daher brachte Rothenburg allerdings auch nur zwei Großburgen der näheren Umgebung unter seine Kontrolle, Nordenberg und Endsee, während der Pfanderwerb der dritten Großburg, Schillingsfürst, scheiterte.

Jedoch sind hinsichtlich des defensiven Charakters der rothenburgischen Territorialpolitik Einschränkungen zu machen.

Der reichsstädtische Territorialerwerb der Topplerzeit betraf nicht bloß den engeren Umkreis um die Stadt, jene 400 Quadratkilometer, welche bis 1802/03 die Rothenburger Landwehr bildeten. Vielmehr gehörten auch dazu Dörfer und Güter im Aischgrund, die Feste Landsberg im Steigerwald, über die Richard Schmitt gerade gearbeitet hat, der Weinort Eibelstadt am Main, Messelhausen unweit Lauda an der unteren Tauber, Herrenzimmern auf der Hohenloher Ebene, Kirchberg an der Jagst, letzteres als hohenlohisches Pfand im gemeinsamen Besitz der drei Reichsstädte Schwäbisch Hall, Rothenburg und Dinkelsbühl.

Von solchen Stützpunkten aus übernahm Rothenburg mit seinem ehemals staufischen Landgericht, das seit 1387 als Pfand in den Händen des Rates war, die Rechts- und Friedenswahrung in einem erheblichen Teil Frankens südlich des Mains, im wesentlichen in jenem Gebiet, das schon die Staufer und deren Ministerialen von Rothenburg aus verwaltet hatten. Rothenburgs wichtigsten Konkurrenten in dieser Hinsicht waren der Burggraf von Nürnberg und der Bischof von Würzburg, die jeweils über ein eigenes Landgericht verfügten und untereinander heftig verfeindet waren.

Ihnen gegenüber legte Rothenburg größten Wert auf die Zuständigkeit seines Landgerichts für ganz Franken. Um dies zu unterstreichen, könnte es sein, daß man den legendären König Faramund, angeblich zu Beginn des 5. Jahrhunderts der erste Herzog von Franken, als Gründer von Rothenburg herausstellte.

Die vier topplerzeitlichen Figuren auf dem Rathausturm in Rothenburg sind nicht leicht zu deuten, doch die Vermutung, eine davon sei König Faramund, hat einiges für sich.

Daß Eberhard von Grumbach, ein Adeliger aus dem Umkreis des Bischofs von Würzburg, 1402 schimpfte, Rothenburg wolle sich anscheinend die ganze Welt unterwerfen, muß jedenfalls vor dem Hintergrund der Ansprüche des Rothenburger Landgerichts gesehen werden. Die Feindschaft zwischen dem Bischof von Würzburg und dem Burggrafen von Nürnberg hielt Heinrich Toppler für unüberbrückbar und glaubte, beide ständig gegeneinander ausspielen zu können.

Dies Kalkül ging bekanntlich nicht auf. Bischof und Burggraf sorgten 1407 gemeinsam dafür, daß Rothenburg in die Reichsacht kam. Da das Reichsaufgebot jedoch nicht ausreichte, um Rothenburg zu erobern, kam es 1408 zu einem Kompromiß: Rothenburgs Großburgen Nordenberg und Endsee wurden geschleift, ebenso die kleineren Anlagen in Habelsheim, Lichtel und Gammesfeld. Sonst aber verzichteten die Kontrahenten auf den Einsatz ihrer Landgerichte gegeneinander und anerkannten ihren territorialen Besitzstand.

Während Heinrich Toppler im Zweiten Kaiserreich nach dem Vorbild Bismarcks beim 500jährigen Gedenken seines Todes als großer Staatsmann gepriesen wurde, wird er heute eher als skrupelloser Emporkömmling - seinen Rivalen Johann Wern schwärzte er als Ketzer an, um ihn aus der Stadt zu vertreiben - und als leichtfertiger Vabanquespieler gesehen, letzteres wegen seiner gewagten und letztlich gescheiterten Schauckelpolitik zwischen dem Bischof von Würzburg und dem Burggrafen von Nürnberg.

Einig war man sich bisher immer, daß Rothenburg mit dem Sturz und Tod Heinrich Topplers 1408 seine großzügige, expansive Territorialpolitik aufgegeben habe. Nach Heinrich Toppler habe sich die Stadt nun wirklich eingeigelt, habe sie sich beschränkt auf engherzige Kirchtumpolitik zum Schutz bürgerlicher Güter in der Landwehr. Tatsächlich stieß die Reichsstadt im 15. Jahrhundert nach und nach ihre entlegenen Außenposten ab, doch hatte diese Entwicklung schon 1407 mit Herrenzimmern eingesetzt, also noch bei Lebzeiten Heinrich Topplers.

Die Landhege, deren defensiver Charakter offenkundig ist, soll um 1430 unter Ausnutzung der Hussitenangst angelegt worden sein. Doch schon 1406 wurde der Schäfer von Endsee bestraft, weil er die Hege zerbrochen hatte [Borchardt, JffL 1994, S. 266]; mithin dürfte die sogenannte Einigelung Rothenburgs bereits zu Topplers Lebzeiten begonnen haben. Vielleicht war die Landhege noch nicht vollständig ausgebaut, doch erste Anfänge gehören anscheinend bereits in die Jahre um 1400. Im übrigen werden die mit Büschen und Strauchwerk bestandenen Wälle und Gräben der Landhege kaum eindringende Truppen abgeschreckt haben.

Schwer mit Beute beladen entkommen konnte man allerdings über die Landhege nicht so leicht. Militärisch muß es daher als Hauptzweck der Landhege gelten, Zeit zu schaffen für die Mobilisierung der Landwehr, um Plünderern ihren Raub wieder abzujagen. Sekundär diente die Landhege daneben zur Kontrolle des Verkehrs, insbesondere der Aus- und Einfuhr. Wie sich die Landbewohner, die Bauern zur der städtischen Territorialbildung stellten, sei als allgemeine Frage hier noch angesprochen.

Zur Zeit Heinrich Topplers kam der Rat den Bauern anscheinend entgegen. Die gewohnheitsmäßig festgelegten, mündlich tradierten Rechtsverhältnisse in den erworbenen Herrschaften wurden durch Beauftragte des Rates von den Bewohnern erfragt, also im Einverständnis mit den führenden Bauern formuliert und schriftlich fixiert.

Von Heinrich Toppler weiß man, daß er seinen Hintersassen bei der Festsetzung der Gülten, des Hauptrechts und des Handlohns entgegenkam, und vielleicht verhielt sich der Rat insgesamt ähnlich. Stadt wie Bürger investierten auf dem Land, legten Fischzuchten, Kalkbrennereien, Ziegeleien und Schäfereien an, was der verarmte Niederadel nicht gekonnt hatte. In solchen Betrieben, bei verbesserter Waldnutzung und bis 1407/08 auch zur Instandhaltung und Bemannung der Burgen und festen Häuser schufen Stadt und bürgerliche Grundherrn neue Beschäftigung.

Natürlich waren die Landbewohner zu Diensten (Kriegs- und Wachdiensten) sowie zu Steuern verpflichtet.

Doch erst nach 1410 finden sich Klagen, daß sie sich übervorteilt fühlten. Die Klagen steigerten sich während des 15. Jahrhunderts und ließen die Landwehr 1525 zu einem Ausgangspunkt des Bauernkriegs in Franken werden. Man könnte fragen, ob die Ratsoligarchie Lasten auf die Landbevölkerung abwälzte sowie protektionistische Maßnahmen zugunsten von Handwerk und Gewerbe der Stadt ergriff, um ihre von der Handwerkerrevolte 1451 bis zum Bürgeraufstand 1525 unpopuläre Herrschaft in der Stadt zu stabilisieren.

Andererseits hat soeben Alison Rowlands in ihrer Dissertation zu den Hexenprozessen in Rothenburg 1549 bis 1709 gezeigt, daß die Ratsherrschaft nach der Reformation so unangefochten dastand, so fraglos akzeptiert war, daß sie sich nicht durch eifrige Hexenverfolgung profilieren mußte, anders als beispielsweise die Bischöfe von Würzburg und Bamberg.

Die Geschichte des Rothenburger Territoriums vom 15. bis 18. Jahrhundert bietet somit noch viel Stoff für Forschungen. Lassen Sie mich für heute abschließend nach möglichen Beweggründe für den Erwerb des Territoriums an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert fragen. Generell hat man als Motive für Territorialerwerb, wie ihn im 14. Jahrhundert nicht nur Reichsstädte wie Rothenburg, sondern auch landesherrliche Städte von Göttingen über Breslau bis Danzig betrieben, namhaft gemacht: (1) das Bemühen von Handelsstädten wie Lübeck oder Nürnberg, Verkehrswege im Umland durch Erwerb von Burgen zu sichern, (2) den Versuch von Ackerbürgerstädten, den Grundbesitz ihrer Bürger in eigene Herrschaft zu übernehmen, (3) das Streben von durch Handwerkerzünfte beherrschten Städten wie Zürich, bäuerliches Handwerk im Umland als unliebsame Konkurrenz zu unterbinden oder die Bauern anstelle der Bürger mit Diensten und Abgaben zu belasten. An der Aufrechterhaltung des Friedens interessierte Handelsstädte nutzten dabei ihre Kapitalkraft, um durch Kauf oder Pfanderwerb ans Ziel zu gelangen.

Von den Zünften beherrschte Städte scheuten sich nicht vor Gewaltanwendung; man beachte hier, daß eine volksnahe Regierung nicht unbedingt friedlich sein muß. Alle drei Erklärungen passen für Rothenburg schlecht, denn in Rothenburg gaben weder Kaufleute noch Ackerbürger noch Zünfte den Ausschlag.

Rothenburg Territorialerwerb war anscheinend das Werk von neureichen Großbürgern, den Toppler, Wern, Häuptlein, Eberhart, Kreglinger, Öffner, Trüb, die in bestimmten Zweigen der Land-, Teich- und Forstwirtschaft (Ludwig Schnurrer hat auf Schafzucht und Wollhandel hingewiesen). Chancen sahen und deshalb für sich Grundbesitz, für ihre Stadt Herrschaftsrechte erwarben.

Die ratsfähigen Familien mit ihrem Großgrundbesitz hatten wenig gemeinsam mit den kleinen Stadtbauern,den Ackerbürgern, die es in Rothenburg zwar gab, die aber kaum Einfluß ausübten.

Die ratsfähigen Familien in Rothenburg lebten wirklich von ihrem Großgrundbesitz und unterschieden sich dadurch von den Nürnberger Patriziern, die von Gewerbe und Handel lebten, Grundherrschaften jedoch eher aus Gründen des Sozialprestiges, einer standesgemäßen, adelsähnlichen Lebensführung nutzten. Auch hier muß in Rothenburg noch vieles detaillierter als bisher geforscht werden, sowohl über die ratsfähigen Familien als auch über die agrarischen Verhältnisse.

Doch als Eindruck wird man schon jetzt festhalten dürfen: Rothenburg blieb mehr als vier Jahrhunderte lang ein von bürgerlichen Großgrundbesitzern dominierter Kleinstaat, was unter den Reichsstädten eher eine Seltenheit darstellt und was jenseits aller Klischees die Bedeutung der Landwehr für Rothenburg unterstreicht.

aus: Verein "Alt-Rothenburg"




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